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  Neumark-Grundschule-Berlin
  Ältere und Jüngere Schüler
 


Wenn ältere und jüngere Schüler gemeinsam lernen Rixdorfer Grundschule in Neukölln Neumark-Grundschule in Schöneberg


Von Florentine Anders Und Regina Köhler
3. März 2008, 04:00 Uhr

Warum eine Grundschule jahrgangsübergreifend unterrichtet und eine andere Grundschule nicht

Ahmet (Name geändert) hat Hunger. "Zu Hause war das Brot alle", erzählt der Zweitklässler der Neuköllner Grundschule seiner Lehrerin in der Frühstückspause. Fast alle stürmen auf Angelika Tiedemann ein, mal ist es ein entzündetes Ohr, das schmerzt, mal Ärger mit den Geschwistern. Die Schule mit 610 Schülern liegt mitten im Brennpunktgebiet. Bildungsbewusste Eltern laden in dieser Gegend ihre Kinder morgens ins Auto und bringen sie weit weg, der Rest kommt in die Rixdorfer Grundschule.

"Wenn hier in der Schule etwas schief laufen sollte, können die Eltern es nicht auffangen", sagt die Lehrerin. Und schief laufen könnte hier einiges, meinen die Kollegen, wenn die Schule die jahrgangsübergreifenden Lerngruppen einführen würde. Die Schule will deshalb den Aufschub der Reform beantragen.

Bis Mitte März können Grundschulen mit der Bildungsverwaltung Zielvereinbarungen treffen, wenn die Bedingungen für das altersgemischte Lernen noch nicht gegeben sind. Mit diesem Zugeständnis hat Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) kürzlich auf die vielen Proteste von Eltern und Schulleitern gegen die verbindliche Einführung der Mischung ab dem kommenden Schuljahr reagiert.

Dabei halten die meisten Lehrer das Modell für durchaus geeignet, die Schüler individuell zu fördern. Vorausgesetzt, die personellen und räumlichen Bedingungen stimmen. Genau an diesem Punkt aber wird es heikel. An vielen Schulen fehlt das entsprechend ausgebildete Personal, andere haben zudem nicht genügend Räume, um das Konzept der Jahrgangsmischung so umzusetzen, dass eine neue Qualität dabei herauskommt.

An der Rixdorfer Grundschule sind 88 Prozent der Kinder nichtdeutscher Herkunft. Für viele ist die Lehrerin die einzige verlässliche Bezugsperson. Viele von ihnen haben vor der Schule nie eine Kita besucht. "Angesichts dieser Probleme können wir uns eine Jahrgangsmischung nur mit einer durchgängigen Doppelsteckung vorstellen", sagt die Schulleiterin Elke Schneider. Doppelsteckung bedeutet, dass zwei Pädagogen in der Klasse sind, die individuell auf die Kinder eingehen können. Doch nicht einmal die vorhandnen Lehrer an der Schule fühlen sich ausreichend auf die Umstellung des Unterrichts vorbereitet.

Nur vier Lehrer der Schule wurden bisher fortgebildet. An zweieinhalb Tagen sollten sie die völlig neue Methode der Wissensvermittlung lernen und anschließend selbst ihre Kollegen darin unterweisen. "Das reicht nicht aus", sagt Angelika Tidemann. Die Pädagogen müssten mindestens über ein halbes Jahr fortwährend geschult werden.

"Wir sind nicht unwillig oder faul", betont die Schulleiterin.

Die Unterschiede in der Entwicklung seien auch ohne Altersmischung schon riesig, sagt die Lehrerin Anette Brandebusemeyer. Nase putzen und Schuhe zubinden lernen viele erst in der Schule. Die Klassenlehrerin würde sich freuen über personelle Unterstützung im Unterricht. Ein Teilungsraum wäre toll, sagt sie, und auch das neue didaktische Material, mit dem sich die Kinder selbst kontrollieren können. Doch dafür ist kein Geld da. Nicht einmal einen Schrank gibt es in dem kargen Klassenraum.

Angesicht ähnlicher Probleme hatten sich 28 der insgesamt 39 Neuköllner Grundschulen für eine Verschiebung der Reform stark gemacht. Nur die Hälfte aller Berliner Grundschulen hatte bereits im vergangenen Jahr, wie ursprünglich geplant, die Altermischung eingeführt. Einige sind sogar schon länger dabei wie etwa die Neumark-Grundschule in Schöneberg.

"Übst du bitte mit mir lesen", fragt Amine und holt auch schon ein kleines Büchlein aus dem Regal. Mühsam buchstabiert sie einzelne Wörter. Wenn es ihr nicht schnell genug geht, denkt sie sich das Ende eines Satzes einfach aus. "Amine möchte unbedingt zu den Lesern gehören und fragt deshalb jeden, ob er mit ihr übt", sagt Klassenlehrerin Kerstin Schulte-Heuthaus. Die Siebenjährige ärgere, dass einige der jüngeren Mitschüler besser lesen können als sie.

Amine ist eines von 23 Kindern, die in der "Drachenklasse" der Schöneberger Neumark-Grundschule lernen. Zwölf der Schüler, darunter auch das dunkelhaarige Mädchen, gehören zu den "großen Drachen", weil sie bereits in der zweiten Klasse sind. Elf sind Erstklässler und deshalb "kleine Drachen". Mehr als die Hälfte der Kinder sind türkischer Herkunft, die anderen arabischer Abstammung. Ein Mädchen hat russische Eltern. Deutsche Kinder gibt es in der Drachenklasse nicht.

Neben Klassenlehrerin Kerstin Schulte-Heuthaus kümmert sich Erzieherin Wiebke Retzlaff um die Drachenkinder. Fast immer sind beide gemeinsam in der Klasse. "Anders würde dieses Konzept nicht funktionieren", ist Schulte-Heuthaus überzeugt. Während die Lehrerin die gesamte Klasse im Blick hat, kann die Erzieherin sich um einzelne Kinder kümmern, die gerade besondere Hilfe brauchen.

An der Neumark-Grundschule werden die Schüler der ersten und zweiten Klassen seit dem Schuljahr 2006/07 jahrgangsgemischt unterrichtet. Lehrerinnen wie Erzieherinnen wurden dafür fortgebildet. Gegenwärtig gibt es fünf Klassen, in denen Schüler zwischen fünfeinhalb und acht Jahren gemeinsam lernen.

"Wir haben sehr gute Erfahrungen mit diesem Konzept gemacht", sagt Schulleiter Ulf Schröder. Die Älteren lernten dazu, weil sie den Jüngeren helfen wollen, die Jüngeren wiederum würden sich an den Älteren orientieren und seien deshalb sehr motiviert.

Gerade die Schüler nicht deutscher Herkunft - an der Neumark-Schule liegt deren Anteil bei 97 Prozent - würden von dieser Form des Unterrichts profitieren. "Da die Kinder insgesamt drei Jahre in der sogenannten Eingangsstufe bleiben können, haben Schüler mit Sprachproblemen mehr Zeit, um Rückstände aufzuholen" sagt Schröder. Jüngere könnten sich dabei an den Älteren orientieren.

Die Drachenklasse beginnt an diesem Mittwochvormittag wie immer mit einer Viertelstunde Freiarbeit. Manche Kinder basteln, andere rechnen oder lesen, einige malen. "Rituale sind wichtig", sagt Kerstin Schulte-Heuthaus. Ein fester Ablauf bilde den Rahmen, in dem jeder Schüler seine Lernwege weitestgehend selbst bestimmen kann. Anfangs habe gerade diese Freiheit ihr Angst gemacht, gesteht die Lehrerin.

"Ich war mir nicht sicher, ob die Kinder wirklich genug lernen", erinnert sie sich. Und war sehr erleichtert, als ein Vater ihr kürzlich sagte, seine Tochter würde viel mehr und schneller lernen, als einst ihre älteren Schwestern in ganz "normalen" Klassen.

Eine Videobeobachtung der Drachenkinder kam zu dem gleichen Ergebnis. Deutlich wurde: Die Kinder geben aufeinander Acht und helfen sich gegenseitig. Hinzu kommt, dass das Voranschreiten einzelner Kinder die anderen motiviert, sich ebenfalls anzustrengen. Amine ist dafür ein gutes Beispiel.

In der Drachenklasse lernen die Kinder auch das richtige Sprechen voneinander, wobei es längst nicht immer die Großen sind, die etwas besser können. Nicht selten ist auch mal ein kleines Drachenkind den anderen voraus. Ein deutliches Ja also zu Jül? Kerstin Schulte-Heuthaus und Wiebke Retzlaff sind davon überzeugt. Vorausgesetzt, die Schule habe genügend qualifiziertes Personal und entsprechende Räumlichkeiten.

"Von den Lehrern und Erziehern erfordert das Konzept zudem deutlich mehr Engagement", sagt Schulte-Heuthaus.

"Es bedarf vieler zusätzlicher Termine, um sich abzusprechen und vorzubereiten." Wenn aber die Abläufe erst einmal eingeübt seien, werde es leichter. "Das haben wir zum Anfang des Schuljahres bemerkt, als die großen Drachen den kleinen genau erklären konnten, wie hier bei uns alles funktioniert."

 
 
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